Einfaches Reichert-Mikroskop
Carl Friedrich Wilhelm Reichert in Wien
Frühes einfaches Mikroskop von Reichert; Mikroskop aus Vollmessing, Wien um 1888/89
– im Jargon der Reichert-Mitarbeiter als Geißfuß (österreichisch für Ziegenfuß) bezeichnetes Stativ. Zaponiertes, geschwärztes und schwarz lackiertes Messing, Stahl. Das einfache Mikroskop mit Auszugstubus verfügt nur über einen einzigen Trieb mit seitlichen Rändelrädern die auf eine Schrägverzahnung wirken.
Das mit dreh- und schwenkbarem Konkav- und Planspiegel sowie Lochblendenscheibe ausgerüstete Mikroskop
ist somit nur für geringe bis mittlere Vergrößerungen geeignet.
Sehr ansprechend wirkt das hochgezogene Vollmessingstativ in seinem schwarzen Lack mit den Golddekorstreifen.
Der im Zapon tadellose Tubus ist in Schreibschrift dekorativ signiert
C. Reichert.
VIII Bennogasse No. 26
Wien
Am ebenfalls zaponierten Rand der runden Tischplatte prangt vom Benutzer aus gesehen rechts die Seriennummer No. 6787.
Ausgestattet ist das Mikroskop mit dem Okular Nr. 3 und seltsamerweise mit einem Objektiv Nr. 7 der Firma Rudolf Wasserlein, Berlin mit Adapterring für Reichert-Gewinde.
Carl Friedrich Wilhelm Reichert
wird am 26.12.1851 in Sersheim, Württemberg geboren. Nach dem frühen Tod seiner Eltern lebt er bei seinem Großvater und geht in Bietigheim zur Schule. Eine Mechanikerlehre beginnt er 1865 bei W. Stierle, Heilbronn. Parallel dazu besucht er die gewerbliche Fortbildungsschule. Nachdem er als Geselle in mehreren mechanischen Unternehmen gearbeitet hat, reist Reichert über Mainz, Köln, Duisburg, Essen, Hannover nach Hamburg. Später zieht es ihn nach Berlin, wo er bei Siemens und Halske Arbeit findet. Schon 1870 fährt der junge Reichert via Leipzig, Dresden und Prag nach Wien. Bedingt durch den deutsch-französischen Krieg verläßt Reichert Wien und zieht mit gleichgesinnten Mechanikern nach Neuchâtel in die Schweiz. Kurze Zeit lebt Reichert danach in Karlsruhe, von wo aus er im Frühjahr 1872 in Pforzheim auf die Firma Öchsle stößt. Beim Vater des damaligen Besitzers war zufällig auch Ernst Leitz in die Lehre gegangen und so kommt es, dass Reichert nach Wetzlar zieht. Ursprünglich ist eine Beteiligung Reicherts an den Leitz’schen Werkstätten geplant. Nach einem einjährigen Aufenthalt bei Hartnack, Potsdam kehrt Reichert 1875 nach Wetzlar zurück, störte sich aber daran, dass Frau Leitz sich zunehmend in die Geschäfte einmischt.
Einvernehmlich trennt sich Reichert von Leitz und übersiedelt mit zwei Mechanikern im November 1876 in die Mölkergasse 3, Wien. Dort werden nach Hartnack’schem Vorbild Mikroskope wie das hier gezeigte hergestellt.
Als sich das Unternehmen gefestigt hat, übersiedelt die Werkstatt im Jahre 1878 in die Laudongasse 40 und Reichert nimmt im gleichen Jahr die Schwägerin von Ernst Leitz zur Frau, welche jedoch schon im März 1881 an Kindbettfieber stirbt. Mitte November des selben Jahres heiratet Reichert die Schwester seiner verstorbenen Frau. Die Werkstatt ist 1881 ebenfalls umgezogen und befindet sich nun in der Bennogasse 26.
Der erste Erfolg der Firma ist die Pariser Ausstellung 1878. Der damalige österreichische Generalkommissär der Optik und Mechanik, Freiherrn von Wertheim veranlaßt Carl Reichert das junge Unternehmen hier mit seinen Mikroskopen vorzustellen. Der Firma kann sämtliche ausgestellten Instrumente verkaufen und bekommt die große Goldene Medaille verliehen.
Derart ausgezeichnet laufen rasch viele Bestellungen weiterer Mikroskope in Wien ein – mit 50 Mitarbeitern verkauft Carl Reichert bereits 1883 sein Mikroskop Nr. 1000.
Das universelle Stativ Reicherts nach dem Vorbilde Hartnacks wird 1889 auf der Pariser Weltausstellung wiederum mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet.
Im Jahre 1891 wird die Seriennummer 10000 erreicht und noch vor der Jahrhundertwende kann das 20000ste Mikroskop 1898 die Werkstatt verlassen.
Am 12.12.1922 verstirbt der Kaiserliche Rat Carl Reichert in Wien.
Über dieses Exponat
In den 1990ern taucht dieses Instrument bei einem Antiquitätenhändler auf der Halbinsel Krim auf – über Hannover gelangt das Mikroskop im Dezember 2003 in diese Sammlung.
Besonders gedankt sei Manfred Feige, Hannover, dem als professionellen Händler bei diesem Mikroskop im Dezember 2003 Idealismus über Profit geht und der ermöglicht, dass dieses Instrument in Deutschland bleiben kann und in die Sammlung gelangt; weiterer Dank gebührt Tilman Halder der kurzfristig bei der Finanzierung des Mikroskops half.
Referenz
2, 3, 9, 22, 25, 82 sowie „Quekett Journal of Microscopy“, 2001, 39, S. 59-72